Normalerweise wird eine Derniere vor der Show durchgesagt. Man hatte an diesem Abend, dem 9.06.09, als Normalbesucher nicht wirklich einen Hauch Ahnung davon, dass es die letzte Show von „Jekyll & Hyde“ im Landestheater in Coburg ist. Kein Wunder, denn aus unverständlichen Gründen seitens der Theaterleitung wurden die letzten drei Shows abgesagt. Besonders bedauerlich ist es für all diejenigen Zuschauer, die weitere Theaterbesuche geplant hatten und derart spontan nicht umdisponieren konnten. Schon im Mai hat man zwei Vorstellungen kommentarlos gecancelt. Dies ist definitiv nicht der Auslastung zuzuschreiben. Die Shows waren über die gesamte Spielzeit so gut wie ausverkauft und „Jekyll“ hat sich zu DEM Theatersaisonliebling hochgespielt. Das Gästebuch des Theaters sprüht und platzt förmlich vor begeisterten Eintragungen und überschlagendem Lob. Aber in der Welt des Theaters lernt man, man muss nicht alles verstehen, oder wenn man das Libretto des Stückes zitiert „Die Welt ist völlig irr!“ Dennoch war dieser Theaterabend unvergesslich.
Die Protagonisten des Abends lieferten samt Orchester und allen Beteiligten der Show eine Glanzleistung vor ausverkauftem Hause. Noch intensiver, noch emotionaler und deutlicher hat sich das Stück seit seiner Premiere vor exakt fünf Monaten, am 10.1.09 entwickelt. Es zeigte sich ein Team, das sich eingespielt hatte und nun so „richtig in Fahrt gekommen“ war. Durch den langanhaltenden Applaus verzögerten sich die einzelnen Szenen im gesamten Stück. Ein Indiz, wie gut J&H ankommt. Elemente, die gerade nach der Premiere haarklein zerpflückt und kritisiert wurden, gewannen an Deutlichkeit und Intensität und durchlebten einen sichtbaren und verständlicheren Ausbau in seiner Aktion. Die Schauspieler haben das Stück verinnerlicht und es ist ihnen rückblickend hervorragend gelungen, ihr Stück aufzuwerten. Jeder in seiner Rolle und in seinem Charakter hat durch Nuancen gewonnen und sich frei gespielt. Es war schlicht toll dies zu beobachten und festzustellen.
Da wäre beispielsweise der „tote Vater“ von Jekyll, der immer wieder auf der Bühne erscheint und ihn über den Kopf streichelt. Sozusagen die Bestätigung und Lob für unermüdliches Kämpfen für seine Arbeit. Die Mimik und Gestik von Schauspieler Klaus-Dieter König hat sich hier um einen guten Schritt verdeutlicht. Nicht nur dessen Figur war sehr umstritten.
Auch die des Kindes – die Darstellung Jekylls in jungen Jahren – hatte an Deutlichkeit gewonnen. Mehr Kampfeslust und Körpereinsatz, sowie Ausdruck in Mimik konnte festgestellt werden. Für den aufmerksamen Zuschauer erschließt sich deren Erscheinung in jedem Fall.
Kerstin Kluge als Nellie/Spider hat mit ihrem kühlen Humor die Lacher auf ihrer Seite und konnte wie zur ersten Stunde als Puffmama gesanglich und schauspielerisch überzeugen.
Als Freund und Anwalt Utterson lieferte Karsten Münster ebenfalls eine tolle Leistung. Er ist ein versteckter Komödiant, gerade dann, wenn er betrunken in Jekylls Arme sinkt und theatralisch die Augen verdreht. Herrlich witzig ist diese Szene anzusehen, ebenso, wenn er vor Nellie auf allen Vieren im Puff vor Jekyll kriecht, wo er doch noch kurz zuvor mehr als echauffiert reagierte, als sein Freund einen Besuch in der „Roten Ratte“ in Erwägung zieht.
Demütig, den Pflichten seines Herren bewusst, ist auch Jens Müller-Rastede als Butler Poole besetzt. Wir er völlig verständnislos die Hure Lucy zu Jekyll eintreten lässt spielt er wunderbar witzig. Auch Müller-Rastede ist es in den Monaten seit der Premiere gelungen, seine Rolle zu intensivieren und die Quäntchen an Humor auszuschmücken.
Wie schon zu Beginn der Inszenierung sind es die drei Hauptprotagonisten, die in der Show strahlen. Da wäre also Katrin Dieckelt als Verlobte Lisa und Ulrike Barz als Hure Lucy. Beide harmonieren stimmlich sowie schauspielerisch einfach nur toll auf der Bühne und überzeugen im kompletten Stück. Ob es nun ein „Nimm mich wie ich bin“ ist, das Dieckelt sanft und schön interpretiert, oder ein „Da war einst ein Traum“, die Rolle passt auf sie. Ihre Rolle ist die Sanftere und Ausgeglichenere der beiden Frauenhauptrollen. Katrin Dieckelt spielt sie überzeugend und bietet so einen klaren Gegensatz zu Lucy. Ihre stimmlich klassischen Nuancen bringt sie wunderbar und dezent zum Einsatz. Ein Beweis dafür, dass maßloses und unkontrolliert-gepresstes Belting auch bei Wildhornkompositionen komplett anders und dennoch sehr ansprechend umgesetzt werden können. Ein großes Lob an dieser Stelle für Katrin Dieckelt, auf die man sich ab Oktober in der Rolle der „Johanna“ in Sondheims „Sweeney Todd“ freuen kann.
Ulrike Barz als Lucy hat schon seit der Premiere in ihrer Interpretation der Rolle, die hier burschikos und rau rüberkommt gepackt und begeistert. Hier ist nichts von dem lieben, kleinen Mädchen zu finden, das in der „roten Ratte“- womöglich schuldlos- gelandet ist. Ulrike Barz zeigt hier eine Lucy, die kampfwillig, stark und doch zerbrechlich wirkt, wenn es um die Liebe zum Wissenschaftler Dr. Jekyll geht. Ihr Zusammenspiel mit Jekyll, gerade in „Gefährliches Spiel“ hinterlässt Schauer und tiefgehende Emotionen. Ihre sanfte, starke und doch entschlussfeste Interpretation von „Jemand wie Du“ ist der Knaller und erntet nicht enden wollenden Applaus. Der schnelle und einwandfreie Wechsel von einem immensen Forte in ein absolutes Pianissimo beherrscht sie beeindruckend, ohne dass ihre Stimme auch nur ansatzweise abfällt oder gar bricht. Zweifelsfrei verdient sie den tosenden Applaus. Es ist schon eine starke Leistung, die Barz hier vollbringt und ZU RECHT wird sie in der nächsten Saison die „Mrs. Lovett“ in „Sweeney Todd“ spielen.
Randy Diamond als Dr. Jekyll und Mr. Hyde vervollkommnet die Kombination Dieckelt und Barz. Was für ein Trio. Er ist sich nicht zu schade vollen Körpereinsatzes auf der Bühne zu präsentieren. Mag es für die einen überzogen, gar irr wirken. Jekyll – oh pardon! – Mr. Hyde IST IRR! Ist die Droge erst im Blut, ist er nicht mehr Herr seiner selbst. Soll er da tatsächlich nur brav dasitzen und lediglich wirr vor sich hinsprechen oder etwas vor sich hinjammern? Dies würde ihm kein Zuschauer abnehmen. Fakt ist doch: Es ist das Böse, das in ihm erwacht, das ihn treibt und unkontrolliert werden lässt. Er mutiert zum Teufel, zum Dämon und wandelt sich zum kompletten Gegenteil von Dr. Jekyll. Der Kontrast muss demnach stark sein. Wer etwas anderes erwartet, hat die Differenzierung von Gut und Böse nicht wirklich erfasst. Und nicht Diamond hat den Text „die Welt ist völlig irr“ verfasst, aber er hat es verstanden, es genau so umzusetzen, wie es das Libretto schreibt. Gesanglich ist er der Rolle zweifelohne gewachsen. Es gibt wenige Schauspieler die den rasanten Wechsel der beiden Stimmcharaktere so beherrschen. Gerade in der „Confrontation“ kommt das stark zum Ausdruck. UND, man vergesse bitte nicht den umfangreichen, schnell zu singenden/sprechenden Text. Randy Diamond mag so manche ausgeglichene – sanfte Musicalbesucherseele in seiner eigenwilligen Interpretation reizen und schocken. Beweis für sein unumstrittenes Können ist der Applaus, der lautstark und langanhaltend ertönt, sobald seine Lieder enden.
Abschließend kann man es nur bedauern, dass eine solche erfolgreiche und außergewöhnliche Inszenierung ein so schnelles Ende findet. Otto Pichler hat als Regisseur eine mit Sicherheit ungewöhnliche Jekyll-Show kreiert, die aber wiederum beweist, dass nicht jede vorgefertigte Broadway-Show vom Publikum bevorzugt wird. (Fotos Derniere & Generalprobe)