Wohl kaum ein anderes Musical erlebte in den vergangenen Jahren einen derartigen Boom wie „Jekyll & Hyde“ von Frank Wildhorn. Unzählige Inszenierungen überschütten nicht nur Deutschlands Musicalmarkt. Der „Hype“ bleibt ungebrochen. Es muss schon ein ganz besonderer Zauber in diesem Musical innewohnen, dass es so viele Menschen anlockt. Nicht nur die Zuschauer strömen in die Vorstellungen. Scharenweise pilgern Darsteller in die Auditions um eine der hart umkämpften und unfassbar begehrten Rollen zu ergattern.
Doch um was geht es in „Jekyll & Hyde“? Das Stück existiert als Novelle von Robert Luis Stevenson bereits seit dem Jahre 1886. Zahlreiche Bühnenfassungen und Verfilmungen durchlebte die Figur Jekyll/Hyde seitdem, aber als Musical ist es erst seit 1997 bekannt und erlebte seine Welturaufführung am Broadway. Problemlos reiht sich dieses Werk in die Sparte der Horrorliteratur ein, wie es „Dracula“, „Frankenstein“ oder „Der Vampir“ tun. Thematisiert wird in allen diesen Romanen im Grunde die Gespaltenheit eines Menschen, das Gegenteil eines Normalsterblichen. Es ist der Reiz des Guten und Bösen, wie Engel und Teufel, die in der ein und derselben Person wohnen. Der innere Schrei nach Befreiung und Macht lässt das Böse anschwellen und siegen- zum Vorschein kommt Mr. Hyde.
Der Arzt und Wissenschaftler Dr. Jekyll hat ein Elixier erfunden, das es möglich macht, das Gute und Böse in einem Menschen zu wecken, hervorzubringen und zu trennen. Um das zu beweisen sucht er nach einer Versuchsperson und findet sie. Er selbst will sich der Forschung zur Verfügung stellen. Getrieben von der Macht des Bösen kann er sich als Mr. Hyde dem Charakter nicht entziehen – und er will es eigentlich auch gar nicht. Die Zerrissenheit zwischen den beiden Charakteren, das Leid und der Schmerz, den er erträgt zwischen normalem und abnormalem Leben zerschmettert zunehmend seine Persönlichkeit. Er verliert zusehends mehr die Kontrolle über sich und seine Gefühle. Das Experiment verselbständigt sich und nimmt unaufhaltsam Kurs auf die Tragödie, da er eines Gegenmittels nicht mächtig ist. Er geht sogar so weit, dass er keinen Halt mehr sieht und sein Gewalt- und Aggressionspotential an der Prostituierten Lucy Harris auslebt. Immer mehr löscht der böse Hyde den guten Jekyll aus und nimmt von ihm Besitz. Das Teuflische kontrolliert und leitet die Seele dieses Menschen. „Er (Hyde) verschwindet in mir wie ein Hauch auf dem Spiegel!“
Im Laufe der Geschichte müssen all die Menschen ihr Leben lassen, die eine Gefahr für ihn darstellen könnten bzw. seine Kritiker und Gegner als Wissenschaftler waren. Viel zu spät, erst am Ende merkt er wie sehr ihn Hass und Wut zerstört haben und dass er das, was er eigentlich liebt längst verloren hat. Durch den brutalen Mord an der Prostituierten Lucy, wird ihm bewusst, dass er den Kampf gegen das Böse und letztlich gegen sich selbst verloren hat…
Das Angebot an Jekyll-Produktionen ist immens und so lassen sich Vergleiche bei aufmerksamen J&H –Besuchern nicht vermeiden. Versucht doch jede Inszenierungen einen eigenen Touch einzubringen, indem sie hier und da an der Geschichte bzw. der Handlung feilt, ändert und tauscht. Ein „gefährliches Spiel“ im wahrsten Sinne des Wortes, denn man läuft zwangsläufig Gefahr das gewohnheitsbedürftige Publikum zu erschrecken oder gar zu verjagen.
Das kleine, wunderschöne Landestheater Coburg lud am 10.1.09 zur Premiere dieses Welterfolgs und war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Spannung die in der Luft lag, war spürbar, sobald man die Türschwelle ins Foyer überschritten hatte. Pünktlich um 19.30 Uhr öffnete sich der Vorhang und gab frei, was seit Monaten mit Spannung erwartet wurde.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören, so gebannt lauschte das Publikum der Stimme von Randy Diamond als Dr. Jekyll, der am Totenbett seines Vaters verspricht seine Forschungen weiter zu betreiben und nicht aufzugeben. Der Vater erscheint im Laufe des Stückes übrigens immer wieder in seinem Umfeld, hat jedoch weder Sprech- noch gesangliche Passagen. So erhält er leider keine wirklich sinnvolle Bedeutung und man kann nur erahnen, dass er auch nach seinem Tod noch starken Einfluss auf Dr. Jekyll ausübt. Das Kind, das ebenfalls mit dem Vater in Erscheinung tritt symbolisiert wohl im Übertragenen Sinne die kindliche Ader, die in Jekyll steckt. Und so wird er von beiden Seiten konfrontiert, getrieben und beeinflusst.
Nach einem kurzen Monolog kommt erstmals der Chor und Extrachor des Theaters mit „Fassade“ zum Einsatz. Hochmotivierte Power und Dynamik schmetterte er dem Publikum entgegen. Es fällt richtig ins Auge, wie bemerkenswert synchron die Bewegungen der Sänger auf der Bühne sind. Gerade Chorpassagen haben darin oftmals ihre Schwierigkeiten. Diese Leistung muss an dieser Stelle anerkannt werden. Auch das Orchester unter der Leitung von Roland Fister lieferte an diesem Abend einen durchgehenden, glänzenden Job. Mit Gefühl, vielen Akzenten und Power gelang es ihm, stets ausdrucksstark, jedoch nicht übertönend, präsent zu sein. Das Ballett und die Statisterie unterstrichen auf fein abgestimmte Weise und interessanten Kostümen das Geschehen auf der Bühne ohne penetrant zu wirken. Trotz dezenter Choreografien möchte man dennoch nicht auf deren Einsatz verzichten, denn eine gelungene Atmosphäre schaffen sie allemal.
Ein großer Saal „öffnet“ sich und die feine Londoner Gesellschaft hat sich zur Verlobungsfeier der Tochter des Hauses, Lisa Carew mit dem Arzt und Forscher Dr. Jekyll versammelt. Beinahe affektiert hüpft die Upper Class bei einem Glas Champagner, mehr oder weniger erfreut über die anstehende Verbindung, durch den Saal. Vergebens versucht Lisas Vater ihr die Hochzeit auszureden, als auch schon der Verlobte Dr. Jekyll zur Feier stößt. Im Duett „Nimm mich wie ich bin“ brilliert Katrin Dieckelt als Lisa mit einem schönen und jungen klassischen Sopran und liefert so mit der weichen und gefühlvollen Stimme von Randy Diamond ein überzeugendes Zusammenspiel. Noch bevor ein Hauch von zuviel Romantik oder gar Kitsch ins Rollen kommt, löst sich die Stimmung in einer witzigen Szene, bei der Lisa den Biss in eine Banane dem Kuss ihres Verlobten in letzter Sekunde vorzieht. Generell wirkt Katrin Dieckelt an der Seite ihres Jekylls sehr gut, auch wenn der erste Akt nicht wirklich Spielraum lässt um die Rolle zu profilieren. Dennoch, im zweiten Akt kann sie überzeugen. Ihr Schauspiel hinterlässt Eindruck. Im Duett mit Lucy (Ulrike Barz) „Nur sein Blick“ kann sie ihre weiche und liebreizende Seite verdeutlichen, das krasse Gegenteil von Lucy, die burschikos und fast derbe gespielt wird. Ihre weiche und klare hohe Stimme ergänzt sich hervorragend zu Ulrike Barz‘ rauer Stimmlage. Mit den beiden jungen und begabten Darstellerinnen hat man eine hervorragende Auswahl in der Rollenbesetzung getroffen.
Überhaupt- wer hier Romantik und Kitsch erwartet, wird vergebens darauf warten. Die Inszenierung geht eine gerade Linie. Kein Schnick Schnack, keine Schönmalerei lenkt ab. Der Faden zieht sich konsequent durch das Stück. Ganz klar: im Fokus steht die Hauptfigur Jekyll/Hyde und das ist auch gut so. Aus dem Roman wird ein Drama, ein Thriller, der es versteht Spannung von Szene zu Szene aufzubauen und bis zum Schluss zu halten ohne jemals übertrieben zu wirken. Kernthema bleibt von Beginn bis zum Schluss die Persönlichkeitsspaltung und wie sie sich äußert. Nämlich in Gewalt, Macht und Hass. Das Resultat: Verlust von Vertrauen, Liebe, Freunden und am Ende von sich selbst.
Regisseur und Choreograf Otto Pichler hat hier hervorragende Arbeit geleistet. Die Hochzeitsszene wurde komplett gestrichen, was aber hier gar nicht weiter abgeht. Sie hätte tatsächlich in dieser Inszenierung auch nichts verloren gehabt. Straight, teilweise schon recht brutal und hart geht die Handlung vonstatten, stolpert bewusst über Gewalt und Provokation und findet letztlich in einem überraschenden Ende wieder zusammen.
Betont wird die gesamte Optik durch die minimalistische Bühnenausstattung. Nur was sein muss ist zu sehen. Kein Klamauk, kein Kitsch findet sich hier wieder, nichts lenkt ab oder könnte über eventuell entstehende Fehler hinweg täuschen. Dieses System spiegelt sich auch in den Kostümen wieder. Opulent lassen sie sich nicht bezeichnen. Realistisch, minimalistisch und praktisch verdient eher die Bezeichnung und doch sind sie passend ausgewählt. Eine wirklich bemerkenswerte Leistung, die Erwin Bode als Ausstatter geleistet hat. Die Lichteffekte liefern die passende Atmosphäre und setzen das was die Bühne zu bieten hat mitsamt Schauspielern in ein perfektes Licht. Hier konzentriert sich alles auf die Protagonisten und die Geschichte selbst. Und auch hier bestätigt es sich wieder einmal „weniger ist oft Mehr“ in diesem Fall ist „Weniger“ wirklich „Alles“.
„Dummheit und Unwissenheit führen nur zu mächtigen Vorurteilen“... Nachdem Dr. Jekyll vor dem Ärztegremium mit seiner Forschung gescheitert ist begibt er sich auf die Suche nach einer passenden Versuchsperson. Nach einem Besuch in der „Roten Ratte“, einem Freudenhaus, bei Madame Nellie (Kerstin Kluge) hat er diese gefunden. Nein, nicht Lucy Harris (Ulrike Barz), die Prostituierte, die er dort kennenlernt soll diesem Versuch gegenübertreten. Er selbst will sich hierfür zur Verfügung stellen.
Auf den ersten Blick hat Lucy alias Ulrike Barz vielleicht eine leicht abschreckende Wirkung. Sieht sie im Gegensatz zu ihren zahlreichen anderen „Lucy-Darstellerinnen“, die mädchenhaft, weiblich, lieblich und verletzlich wirkten, eher ausgemergelt und herunter gekommen aus. Betont wird diese Optik durch ihre leicht raue und harte Stimme, die stark geschminkten Augen und den knallroten Mund. Doch gerade das kann glaubhaft vermitteln, was der Charakter Lucy darstellen soll. Eine verbrauchte, enttäuschte und gefrustete Prostituierte, die an nichts mehr im Leben glaubt und nur noch ums Überleben kämpft. Ulrike Barz verkörpert eine „andere“ Lucy, derart überzeugend, dass man als Zuschauer nicht imstande ist, sie zu verachten, eher mit ihr zu leiden. Sie hat eine starke Ausstrahlkraft in Schauspiel sowie Gesang, dass sie das Publikum mit ihren Songs nur so packt. Später, als sie wahrnimmt, dass sie sich in Dr. Jekyll verliebt hat, singt sie verzweifelt und tief berührend „Jemand wie Du“. Allerspätestens dann merkt man, über welch starke Präsenz diese Frau verfügt. Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit aber auch Trauer und Bitterkeit kann sie in diesem Lied umsetzen und hinterlässt Betroffenheit. Die Gesichter, in die man reihum im Publikum nach dieser ergreifenden Perfomance sieht, zeigen, dass die junge Schauspielerin und Sängerin Ulrike Barz die Herzen erreicht hat. Wenn sie später zusammen mit Mr. Hyde „Ein gefährliches Spiel“ singt kommt auch hier ganz deutlich ihr großartiges schauspielerisches Talent zum Ausdruck. Es überzeugt wie sie die geschändete und verachtete Hure spielt, während sie sich von Diamond kreuz und quer über die Bühne jagen/zerren lässt oder sich ängstlich an die Mauer kauert.
Mit DEM Lied des Musicals „Dies ist die Stunde“ serviert Randy Diamond ein weiteres Highlight. Gerade hat er beschlossen sich selbst dem Versuch zu beugen überkommt ihn Euphorie. Sanft, leise und bedacht eröffnet er den Song und erzielt schon mit wenigen Gesten Ausdruck. Allmählich steigert er sich, die Musik schwillt an und auch Diamond scheint die Welt um sich zu vergessen, setzt Takt für Takt mehr Power ein, bis er im Abschluss das Publikum zu Jubelrufen und begeisterten Applaus hinreißt. Und auch schauspielerisch überzeugt er in der nächsten Szene, wenn er die ersten Notizen vollbringt, nachdem er sich das Elixier gespritzt hat. Nachdem er auffällig „krankhaft, beinahe irr“ kichert und lacht, umschreibt er in der nächsten Situation „keine besonderen Auffälligkeiten im Verhalten…!“ Die Droge beginnt zu wirken … im Bühnenhintergrund erscheint ein Junge (er symbolisiert Dr. Jekyll als Kind), der mit einem Stift einen breiten, schwarzen Strich von der Stirn ab über die Brust Dr. Jekylls malt und somit die Spaltung seiner Persönlichkeit einberuft…. Diamond wälzt sich von Schmerzen und Krämpfen geplagt auf der Bühne… Das Böse – Mr. Hyde – ist geboren. Bedrohend, Angst einflößend setzt Diamond Mimik ein und ist nicht wieder zu erkennen. Der soeben noch warmherzige und weiche Dr. Jekyll ist nun der skurrile und abschreckende Mr. Hyde. Hier ist der Teufel, das Böse erwacht und stürzt sich besessen, wie von Dämonen getrieben auf sein Opfer Lucy und nimmt von ihr Besitz. Kaltblütig und diabolisch ermordet er seine Lucy und singt danach derart schizophren „Die Welt ist völlig irr“. Dabei springt er über die Bühne, mit einem Gesichtausdruck, als wenn er tatsächlich von „Sinnen und allen Geistern verlassen wäre“.
In der „Konfrontation“, kurz vor seinem Suizid kommt Diamond noch einmal in Fahrt, indem er sekundenschnell im Wechselspiel die Charaktere ändert, bevor er sich die Pistole an den Kopf hält. Am Ende liefert sich Mr. Hyde noch einen letzten Kampf mit dem Vater und dem Kind, bevor er kapitulieren muss.
Er schockt mit Sicherheit einige Besucher. Diamond gelingt es alle Facetten eines Menschen einzubringen. Der Applaus, den er am Ende der Premiere für eine herausragende Performance erntet, war völlig verdient und berechtigt.
Der Zuschauer erlebt über das gesamte Stück weg ein psychisches Auf und Ab. Und doch ist alles so derart und wohl dosiert, dass man niemals Gefahr läuft sich in einer bestimmten Stimmung zu verlieren. Gerade dann, wenn die Emotionen zu schwanken beginnen, ja fast drohen überzulaufen, wendet sich die Szene und die Passage verkehrt ins Gegenteil. Ruhige Töne, weiches Licht und warme Stimmen lösen harte, schnelle und abrupte Szenen ab. Wenn sich Mr. Hyde am Ende das Leben nimmt, dann, wenn er realisiert, wie sehr das Böse von ihm Besitz genommen hat, wechselt auch seine Stimmung in Verzweiflung. Sehnsucht nach Abbitte und Erlösung macht sich breit, doch es ist zu spät. Es gibt für ihn nur noch einen Ausweg… Alsdann erscheint Lisa (Katrin Dieckelt), die bis zuletzt als Einzige an ihn und seine Forschung geglaubt hat, wie der Vergebungsengel und singt mit ihrem schönen klaren Sopran die letzten Töne, die Reprise von „Da war einst ein Traum“, bevor sich der Vorhang absenkt und das Publikum zu einem nicht enden wollenden Begeisterungssturm ansetzt.
Marina Christiana Bunk, 13.1.09