In den 70’er Jahren DER Aufreger ist das Musical heute ein nicht mehr wegzudenkender Kult. Es ist zeitlos und nicht nur ein vom Drogenrausch beflügelter Traum. Die Sehnsucht nach Frieden ist heute größer denn je. Die Drogenproblematik, die hier sehr ironisch gehändelt wird, ist aktueller, als wir es vermuten. Längst gibt es keine erhitzen Debatten mehr über offen ausgesprochene Liebe, es hat sich normalisiert, aber Diskussionen über den Sinn von Waffen und Krieg werden sich wohl nie normalisieren. „Let the sunshine in“ könnte jederzeit ein Schlachtruf werden wie einst „Peace now!“.
In den Köpfen hat sich das Wort „Friede“ längst als ein Alltagswort entwickelt. Wir scheinen nicht verstanden zu haben, welche starke Bedeutung es eigentlich in sich trägt. Man darf bei all dem Musical-Zirkus nicht vergessen, dass Hair im Ursprung rund um den Vietnamkrieg handelt und in Zeiten des Vietnamkrieges entstanden ist. Der Krieg, begonnen mit dem Indochinakrieg 1947, ist einer der Langanhaltendsten, Grausamsten und Blutigsten der Geschichte und hat zudem wohl die meisten Opfer im Rahmen eines Massakers gefordert. So fielen 4 Mio Zivilisten, 1 Mio vietnamesische Soldaten und 57.685 amerikanische Soldaten. Rund 3 Mio Verletzte wurden gezählt und etwa 60 000 amerikanische Soldaten nahmen sich selbst nach dem Krieg noch den Tod – aufgrund psychischer Folgen. Die grausamste Giftwaffe- „Napalm“-Bomben- fanden hier seinen Einsatz. (Napalm besteht aus Naphthen und Palmitin, hat eine zähe, gallertartige Konsistenz und wirkt wie Benzin. Es verbrennt und löst schwerste Reaktionen dort aus, wo es hingelangt bei einem Verbrennungsgrad von 800 – 1200 Grad). Mit dem „Fall Saigons“, der Hauptstadt Südvietnams und gleichzeitig deren Umbenennung in „Ho Chi Minh-Stadt“ am 30.4.1975 wurde der Krieg endgültig beendet.
Stücken wie „Hair“ aus dem Jahre 1968 gelingt es ab und an für wenige Stunden das Denken der Menschen anzuregen, auch wenn es nichts verändern wird. Doch vielleicht ist es irgendwann einmal ein Teil des Anfangs vom Frieden.
Nun, da flippen sie aus, eine Reihe renommierter Musicaldarsteller. Sie singen und tanzen zu „Hare Krishna“– Hymnen im Zeitalter des Wassermanns. Neben Love, Peace und Freedom sind Sex und Drugs hoch im Kurs am Staatstheater in Kassel. Die Inszenierung von Philipp Kochheim mit Choreographien von Alonso Barros und unter der musikalischen Leitung von Giulia Glennon feierte am 24.1.09 Premiere und ist noch bis zum 9.7.09 zu erleben.
Hair ist ein Musical, das wie kaum ein anderes Bühnenstück die unterschiedlichsten Fassungen durchlebt. Es geht gänzlich von der bekannten Verfilmung von Milos Forman weg und erlebt hier in Kassel eine Neuauflage. Dennoch tragen Schlagworte wie Krieg, Gewalt, Kriegsdienstverweigerung, Elternkonflikte, Rassismus sowie Frieden, Drogen und Liebe einen Hauptbestandteil in der Handlung am Staatstheater.
Das Stück beginnt mit einer Rede von J.F. Kennedy, auf eine Leinwand vor der Bühne projiziert. Das Jahr des Wassermanns startet und mit ihm die ersten Töne von „Aquarius“. Es ist, als befinde man sich inmitten einer riesigen Snowboard Halfpipe, in der jeden Moment die Sportler ihre Kunststücke beweisen. Die Kulisse besteht im Grunde genommen neben kleineren Requisiten lediglich aus diesen zwei verschiebbaren Elementen. Ab und an zeigt die heruntergelassene Leinwand Filme prägnanter Stationen der Kriegs-Geschichte, wie die eingangs erwähnte Rede J.F. Kennedys oder später die Rede von Martin Luther King vor dem Capitol, der als Symbolfigur der Bürgerrechtsbewegung und Gegner des Krieges galt, aber auch die ersten Luftangriffe Amerikas auf Vietnam werden gezeigt. Inmitten dieser beiden Elemente also spielt sich das Hippietreiben ab.
Der thematische Inhalt und die Musik machten es dem Stück in Kassel scheint es nicht allzu leicht einen Faden durch das Stück zu legen. Deshalb mag es daran liegen, dass die Songs hin und wieder durch mehr oder weniger sinnvolle Handlungen oft eher zwanghaft bzw. planlos zusammen gekettet wirken. Das Bühnengeschehen ist an mancher Stelle etwas verwirrend oder unverständlich- sie erschließt sich einen im Laufe der gut zweieinhalb Stunden nicht so recht. Wer eine Bühnenfassung des Films mit Treat Williams und John Savage erwartet wird jäh enttäuscht werden. Dennoch hat man auf andere, kreative Weise versucht, eine Handlung aufzustellen, die in jedem Fall vielmehr dem ursprünglichen Bühnenstück ähnelt.
Da sind also die Hippies, die alternativ zum Central Park in New York in dieser Halfpipe leben. Unter ihnen sind bereits Claude und Sheila in die Gruppe integriert. Gemeinsam singen, tanzen, leben, lieben und konsumieren sie Drogen, als wenn sie nie etwas anderes getan hätten. Statt Berger’s Eltern treten Claude’s Eltern immer wieder in den Fokus. Sie symbolisieren das patriotische und siegessichere amerikanische Volk. All ihre Hoffnungen setzen sie in Claude der stolz und siegreich in den Krieg ziehen soll. Doch der hat alles andere geplant, als im Krieg zu kämpfen und tut dies auch zum Entsetzen der Eltern kund. Vielmehr, er genießt das Leben, das diese Kriegsgegner ausleben. Provokativ ignorant jedoch bleiben die Eltern Claudes am Ball und übertragen ihre Kriegsbereitschaft auf den Sohn, der am Ende doch in den Krieg zieht und dabei unumgänglich sein Leben lassen muss. Die Sinnlosigkeit über dessen Tod und letztlich auch am Krieg scheinen sie zu spät, erst am Ende des Stückes zu erfassen.
Neben den Songs hat auch die Bühnensprache an Direktheit zugenommen. Wenn sich beispielsweise Claude nach einem erneuten Drogenkonsum in einen Lampenschirm übergibt kommentiert Jeanie das mit einem „Jetzt siehst Du aber scheiße aus!“ oder, wenn Claude aus seinem Rausch erwacht und meint „Ich bin ein Mensch“ antwortet Berger in gleichem Zuge „Du bist ein Arsch!“ Ebenfalls kommt die Frage bei Claude auf ob er schwul ist, indem er gefragt wird, ober er nun lieber „T… oder Sch…“ bevorzugt. Klar, Sprüche wie diese bringen die Lacher für das Publikum. In dieser Inszenierung ist es gelungen einen neuen, zeitgemäßeren Humor einzusetzen, der sich in den Dialogen wiederspiegelt.
Gesanglich und schauspielerisch sind alle Protagonisten auf der Bühne ebenbürtig. Neben „Deutschland sucht den Superstar“- Aussteigerin Judith Lefeber als Dionne stehen Kai Hüsgen als Claude und Randy Diamond als Berger ihr in nichts nach. Woof wird von Christof Maria Kaiser, Hud von Alvin Lee-Bass und Jeanie von Peggy Pollow verkörpert. Dann gibt es da noch Crissy, gespielt von Isabel Dan und Sheila, gesungen von Nora Leschkowitz.
Eine auffallend stimmlich tolle Mischung weisen hier die Damen auf, denn Judith Lefeber‘s Mezzosopran ergänzt sich wunderbar mit Isabell Dan’s hohem Sopran. Als „Black Girl“ kann Judith ebenso als Dionne mit ihrer kräftigen und vollen Stimme punkten. Peggy Pollow komplettiert die Frauen mit einer hohen, fast qietschigen Sprechstimme, die unheimlich passend und gut im gesamten Erscheinungsbild ankommt. Sie ist die kleine Hipppibraut, die es versteht, das Publikum mit ihrer gespielt naiven Art zum Lachen zu bringen. Nora Leschkowitz hat als Sheila in dieser Verfassung wesentlich mehr zu singen und das beherrscht sie auch. Auch schauspielerisch wirkt sie komisch-witzig, keinesfalls spießig, wie in anderen Fassungen. Isabell Dan als Crissy überrascht mit einem irrsinnig hohen und klaren Sopran, der gerade bei „Hare Krishna“ zum Ausdruck kommt. Kai Hüsgen verleiht dem selbstbewussten, alles andere als scheuen und schüchternen Claude eine neue Farbe und kann gesanglich und schauspielerisch durchweg überzeugen. Randy Diamond als Berger leistet in seinen Auftritten gewohnte Professionalität. Als Leader der Hippi-Bande hat ihm diese Bühnenfassung weniger Aktionismus und Dreistheit eingeräumt. Schade eigentlich, denn ist es gerade doch der Charakter Berger, der Claude in die Welt und das Tun der Hippies einführt. Ein Berger pfeift auf die Konventionen der Gesellschaft und lebt, wie er will. Christof Maria Kaiser als Woof versteht es ebenso Amüsement zu erzeugen. Gerade anfangs kann man sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, wenn er in einen überdimensional großen Hamburger gepackt wird. Er überzeugt in seiner Rolle und verleiht dieser einen recht humorigen Touch. Alvin Lee-Bass ist der einzige „Schwarze“ auf der Bühne. Seine Lässigkeit sticht unter all den „Spinnern“ auf der Bühne heraus. Sein Schauspiel und sein Gesang überzeugt. Optisch erinnert er an einen Mozart-Verschnitt, allerdings mit schwarzem Lockenkopf.
Dann wären da noch die Doubles von beispielsweise Popeye, Tate Polanski, Jane Fonda, Rett Butler, Dick Clark, Timothy Leary, John Lennon, Yoko Ono, Scarlett O’Hara, Andy Warhol und vielen anderen, die teils aus nicht wirklich verständlichen Gründen ihren Einsatz auf der Bühne bekommen, generell jedoch ein guter Einfall sind und in ihrer Wirkung ihr Ziel nicht verfehlen. Man schreibe dies dem Punkt „Künstlerische Freiheit“ zu.
Dramaturgisch ließe sich bei der Inszenierung sicherlich feilen, jedoch ist der Gesamteindruck in jedem Fall gelungen. Die musikalische Umsetzung lässt keinerlei Kritik zu, hier hat man die Balance zwischen Lautstärke und Akzenten durchaus gefunden. Die Kostüme von Bernhard Hülfenhaus sind ebenfalls solide und ansprechbar, nicht überzogen hippie-like. Gerade hier sind es die Doubles die ein wahrer Hingucker und sehr gelungen sind. Die Choreographien von Alonso Barros können sich sehen lassen. Man merkt, dass man sehr bedacht war, im Hippigewirr synchron erkennbare Tänze einzubauen. Er optische Eindruck wurde demnach erreicht. Das Farbenspiel in Sachen Beleuchtung unterstreichen überzeugend das Bühnengeschehen und verleihen eine wunderbar space-ige Atmosphäre, gerade dann, wenn mal wieder alle „high“ sind. „Hair“ in Kassel kann sich in der deutschen Musicallandschaft in jedem Fall dem Publikum präsentieren.
Marina Christiana Bunk, 7.3.09