Da ist sie wieder, diese unverwechselbare, prickelnde Atmosphäre. Es ist Derniere des Musicals „Les Misérables“ in St. Gallen. Geraume Zeit eher als sonst tummeln sich erkennbar aufgeregte LeMi-Fans vor dem Theater. Das Grüppchen wird immer größer, unverkennbar, man kennt sich untereinander. Da können auch die frostigen Temperaturen, die dieser 26.12.07 mit sich bringt nichts an der guten Stimmung ändern. Auch die Tatsache, dass es sich bei diesem Tag um den zweiten Weihnachtsfeiertag handelt, lässt die Hardcorefans im wahrsten Sinne des Wortes kalt, sie pilgerten trotzdem tapfer aus allen Länder Ecken in das kleine, schöne Schweizer Städtchen.
Seit seiner Premiere am 10.3.07 hat sich das Stück bestens eingespielt. LesMis verfügt über einen erstaunlich hohen Fankreis, obgleich die Story nicht gerade eine leichte Kost unter den sogenannten Musicalshows ist könnte das Stück spielend im Fach Oper angereiht werden. Der Hintergrund ist historisch, die Handlung transportiert politische Facetten und ist ein Appell an Toleranz und Mut. Die Musik tendiert zur Klassik und auch die sängerischen Parts erfordern stimmlich klassische Perfektion. Es mag erstaunen, wie so ein Stück nach wie vor wie ein „Rattenfänger“ durch die Lande zieht und immer mehr jugendliche Fans erreicht. Das mag nicht zuletzt an dieser hervorragenden Cast liegen, denen der Erfolg maßgeblich zuzuschreiben ist. Diesbezüglich hat das Theater St.Gallen in dieser Inszenierung ganze Arbeit geleistet.
Die Leiterin für Öffentlichkeitsarbeit, Frau Axt, verriet, dass die Erwartungen des Theaters auch in Bezug auf die Auslastung der Vorstellungen absolut zur Zufriedenheit erfüllt wurden. Einen einzigen Castwechsel hat es seither gegeben. Olegg Vynnyk ersetzte seit dem 23.3.07 den erkrankten Oskar Bly als Jean Valjean. Zuletzt als „Tod“ im Musical „Elisabeth“ 2006 in Stuttgart gefeiert, verkörperte Vynnyk bereits in Berlin im „Theater des Westens“ 2003/04 Valjean und spielt diesen 2007 bis 5. August bei den Bad Hersfelder Festspielen.
Zum letzten Mal in dieser Saison hebt sich der Vorhang und das 40-köpfige Orchester stimmt die gewaltige Ouvertüre des 3-stündigen Musicals an. Unter der Leitung von Stéfane Fromageot präsentierte das St. Gallener Theaterorchester eine durchgehend souveräne Leistung. Noch immer machen es anschwellende Musikpassagen den Darstellern nicht leicht, ihre Stimmen hervortreten zu lassen. Teils werden Tempi sehr rasch vorgegeben. Texte werden dadurch zu schnell gesungen und klingen folglich unverständlich bis verschluckt.
Das zu Anfang kritisierte Bühnenbild arbeitet mit durchaus einfachen aber raffinierten Mitteln. „Umfallende Häuserfassaden“ als Barrikaden verleihen der Aufführung eine spezielle moderne aber faszinierende Note. Antik Historisch sind optisch gesehen in diesem Stück nur die Kostüme. Eine hochinteressante Mischung, die trotz anfänglichem Misstrauen wunderbar harmoniert. Nichts jedoch lenkt von dem Stück selbst ab. So ist „LesMis“ das, was es im Grunde auch ist, ein anspruchsvolles hochwertiges und niveauvolles Musiktheater mit tiefem Hintergrund, historischer Wissensbildung und hohem Unterhaltungswert, jedoch keine Show im klassischen Sinne- Gott sei Dank. Ab und an siegt eben doch noch Qualität!
Unmittelbare Standing Ovations nach „Hört ihr wie das Volk erklingt“ bewiesen, dieser Abend war durchweg gelungen. Kein Wunder, emotional durchlebte das Publikum alle möglichen Facetten. Bereits im 1. Akt wurde Fantines Tod, gefühlvoll interpretiert von Caroline Vasicek, vom „Doppelten Schwur“ überschattet. Tief gerührt hielt man im nächsten Zug den Atem an, denn Mathias Edenborn als Javert und Olegg Vynnyk als Valjean demonstrierten noch am Totenbett überzeugend die Kontrahenten. Stimmlich sowie schauspielerisch sich ergänzend, vermutet man wahre brennende Feindschaft zwischen ihnen. Vynnyk gelingt es eine eindrucksvolle Leistung zu präsentieren und die Gespaltenheit, die Valjean zwischen Überlebensdrang und Gerechtigkeitssinn plagt, ihn in jeder Sekunde zu zeigen. Die Rolle ist Olegg Vynnyk auf den Leib geschrieben. Mit mehr Herzblut, Leidenschaft und Einfühlungsvermögen kann man den Charakter Valjean nicht darstellen. Ist er doch ein Sträfling, der viele Jahre „im Bau“ saß und doch verspürt der Zuschauer tiefe Sympathie und großes Verständnis für ihn und seine Situation. Mathias Edenborn lieferte den Höhepunkt des 1. Aktes, überzeugend hart und selbstgerecht in „Sterne“. Mit tosendem Applaus honorierte das Publikum seine bemerkenswerte Leistung. Eigentlich ist er ja der „Böse“ in dem gesamten Stück, aber seine Leistung ist so derart überzeugend und ergreifend, dass das Publikum ihm diese Charaktereigenschaft kaum übel nimmt. Vielleicht erkennt sich jeder ja auch selbst ein wenig in dessen Charakter? Vielleicht wissen wir tief in uns, dass Besessenheit oft zu Blindheit und Ungerechtigkeit führen kann. Ist es das, was uns Javert am Ende sympathisch rüberkommen lässt?
Lucy Scherer erntete als liebende und leidende Eponine in „Nur für mich“ großen und berechtigten Applaus und auch ihre Darstellung in der Sterbeszene löste beim Publikum sichtbare Emotionen aus. Jeder fragt sich verzweifelt im Publikum, wieso gibt es kein Happy End mit Marius? Doch das gibt es, aber eben nicht mit Eponine. Jesper Tydén als Marius beweist mit „Dunkles Schweigen an den Tischen“ seine stimmliche Vielfalt, sanft bis nahezu aggressiv und zieht damit alle Aufmerksamkeit auf sich. In „mein Herz ruft nach Dir“ überrascht Tydéns komödiantische Seite, als er den tollpatschigen Verliebten mimt und erhielt dafür zurecht viele Lacher und großen Beifall. Aber seine Liebe gilt eben nicht Eponine sondern Cosette, Jean Valjeans angenommene Tochter. Diese wird von Eva Aasgaard verkörpert. Die Rolle der Cosette ist unscheinbar, beinahe langweilig. Cosette ist unschuldig und etwas naiv, die Rolle bietet kaum Gelegenheit sich innerhalb des Stückes zu etablieren. Trotzdem schafft es Eva Aasgaard sie wie einen glänzenden Schwan auf der Bühne zu präsentieren. Ihr glockenklarer, technisch perfekter und reiner Sopran unterstreicht die Jugend und Unerfahrenheit Cosettes. Über Eva kann man sich eigentlich nur wundern. Es ist nicht nur die Perfektion, die jeglichen Zweifel an ihrer Stimme verstummen lässt. Sie schafft es aus den langweiligsten und unspektakulärsten Rollen eine scheinbar große Hauptrolle zu zaubern. Besonders überzeugend kann sie ihre Liebe zu ihrem Bühnenvater Valjean darstellen. Man nimmt ihr die tiefe Verbundenheit zu ihm ab und gerade am Ende des Epiloges rührt Eva auch die Herzen, die bis dato noch standhaft daran geklammert hatten, dass es „nur“ ein Bühnenstück ist. Spätestens an dieser Stelle fließen die Tränen wenn sie „Papa, bleib bei mir! Viel zu früh, für Deine letzte Ruh`!“ singt….
Das Leid in dem Stück symbolisiert Valjean, Ex-Sträfling, später Bürgermeister und Gejagter Javerts. Vynnyks Soloballade „Bring ihn heim“, ist das Highlight des 2. Aktes. Bei diesem Lied handelt es sich um eines der Schwierigsten überhaupt. Die Höhe die dieses Lied abverlangt ist allein schon schwer genug zu bewältigen. Hinzukommt der Text der emotional so derart tief ergreifend ist, wie kaum Texte. Unbeschreiblich, was Olegg Vynnyk mit seiner Stimme und seinem Ausdruck in diesem, wie er selbst sagt, „Gebet“ erreicht . Er fleht, bittet und hofft, ja man glaubt, Vynnyk selbst würde jeden Moment in Tränen zerfließen. Seine überzeugende Verzweiflung weckt ungeahnte Emotionen. Er vermittelt den Inhalt des Liedes so erschütternd und echt, was bleibt sind feuchte Augen bei Frauen sowie Männern. Er gibt der Ballade in einem perfekten Falsett eine ganz persönliche und einzigartige Note. Wie hypnotisiert sitzt das Publikum sekundenlang stumm da, eher der langanhaltende und begeisterte Beifall bestätigt, dass er die Herzen der Zuhörer tief berührte.
St. Gallen hat starken Eindruck hinterlassen. Längst hat sich die Schweizer Stadt zu einem Insidertipp unter Kennern und Fans gemausert. Die Reise ist mehr als empfehlenswert und dies bewies auch der
Menschenauflauf, der am Ende Vorstellung am Bühneneingang stand um Darstellern und Machern persönlich Lob auszusprechen.